Ausstellungen

Neue Malerei (2001)



Werkanalyse eines Werkes von Mechthild Woestmann
von Michael Becker

Mechthild Woestmann

Analyse der Arbeit 1440 von Mechthild Woestmann
Maße: Höhe: 90 cm, Breite: 30 cm, Tiefe: 6 cm 


Die vorliegende Arbeit ist in einem extrem ausfallenden Hochformat gehalten. Es transportiert auf ästhetischem Wege den Eindruck von Aktivität, gleichberechtigter Konfrontation mit dem Betrachter, es legt ein besonderes ästhetisches Anliegen nahe.

Zugleich ist zu fragen, welchen visuellen Grundcharakter das Bild durch diese Formatwahl erhält. Das vorliegende Format suggeriert den Eindruck einer gewissen stehenden und damit einhergehend aktiven Aufrechtheit, wodurch das Bild dem Betrachter als ”gleichberechtigtes”, autonomes Gegenüber entgegenzutreten scheint sowie gleichzeitig von einer gewissen Aufdringlichkeit zeugt, die eine Art hinweisenden, ankündigenden oder mahnenden Mitteilungswunsch transportiert. Im Kontrast zum Hochformat der vorliegenden Maße erhielte dieselbe Arbeit im Querformat einen ”harmloseren” Charakter in dem Verständnis, dass aufgrund des größeren ”Erzählcharakters” des Bildgeschehens, der der Tatsache der Gewährleistung einer gefälligeren ”Lesbarkeit” durch den größeren Verlaufsweg des Auges von links nach rechts durch das Bild zu verschulden ist, sowie aufgrund des ”liegenden”, eben horizontal positionierten Bildgeschehens der Eindruck einer ausgedehnten, ausgestreckten und damit eher passiven (im Kontrast zum aufrechten, zeichenartigen Format) Verlaufsform evoziert würde. Das Hochformat dagegen kommt sofort ”zur Sache”, es lädt nicht wie das Querformat zum sich vertiefenden Nachvollzug eines narrativen, zeitlich sukzessiven Ereignisses ein, sondern drängt das Ereignis zeichenartig unmittelbar auf. 

Der Aspekt der Aufrechtheit des Bildformats leitet zur Thematisierung des Bildgeschehens selbst über, da dieses das spezifische Formatprinzip erfordert, d.h. dem Bildgeschehen selbst eingeschrieben ist. Die Formatwahl scheint hier durch das Bildgeschehen selbst motiviert zu sein, ist also Ausdruck des Ergebnisses einer thematischen Entscheidungsfindung.

Die interne kompositorische Organisation ist recht einfach gehalten. Die ästhetischen Komponenten sind symmetrisch angeordnet. Wir erfahren eine zentrale, mittig positionierte grüne Farbfläche, die oben und unten von jeweils einer rotvioletten bildrandgebundenen Farbfläche umspielt wird.

Besondere Aufmerksamkeit wird zwingend auf die mittlere vertikale rotviolett erscheinende Linienanordnung gelenkt, die sich innerhalb der grünen Farbfläche, angebunden an die rotvioletten Beziehungsflächen, erstreckt. Im Gegensatz zu der gesamten farbflächigen Umgebung handelt es sich bei dieser Linienanordnung nicht einfach um gemalte Flächigkeit, sondern um ausgesägte Aussparungen, die ein Dahinter suggerieren. Im Grunde wurde die Oberfläche aufgesägt, also gezielt partiell zerstört, um das Dahinterliegende sichtbar zu machen / werden zu lassen. Gerade die vor allem am oberen Ende der Linienspalten erscheinenden Dunklungsstellen/partien markieren Schattenbildungen, die dem real Kastenhaften des Gebildes zu verdanken sind. Das einfallende natürliche Licht erzeugt Schatten, da es von einer einzigen Lichtquelle stammt. Dies ist zudem der Grund dafür, dass innerhalb des gesamten Liniaments Helldunkel- sowie Qualitätsunterschiede auftauchen. Sie sind in der Lage, die Plastizität des Gebildes herauszustellen und zu modellieren.

Bevor wir mit einer Semantisierung der Wirkungsdimensionen fortfahren, müssen wir uns Klarheit über das Gestaltvorhaben verschaffen, das die Entscheidung für eine Verletzung durch Zersägen der Oberfläche / des Malgrundes verantwortet, um daraus die Plastizität des Gebildes herauszustellen. Was bedeutet dies objektiv? Dadurch, dass die Flächigkeit des Malgrundes durchbrochen wird, wird das hinter der Fläche befindliche Räumliche sichtbar. Die Zerstörung der Fläche führt für die Interpretation zu einem Kategorienwechsel von Zwei- zur Dreidimensionalität. Wird nun das dahinter liegende Räumliche in die flächige Interaktion eingebunden, so entzündet sich ein Interaktionspotential, das Zwei- und Dreidimensionalität für die Bedeutungsinterpretation integriert.

Die dahinter liegende Räumlichkeit ist nicht potentiell unbegrenzt, sondern vielmehr präzise und eindeutig begrenzt. Denn es wird eine neutralfarbige Rückwand installiert, auf der sich der Lichteinfall manifestieren kann. Man kann also eindeutig bestimmen, dass die Konstruktion darauf abzielt, das einfallende Licht als Gestaltmittel einzusetzen, das Licht charakteristisch zu formen. Denn dies geschieht, sobald Licht die veranlassten Öffnungen passiert: Es nimmt die projizierten Konturen der linear charakterisierten Öffnungen an. Die Konturlinie der Öffnung auf der Oberfläche konturiert das passierende Licht, das sich auf der Innenfläche des plastischen Gebildes, des Kastens als Licht-Schatten-Abgrenzung niederschlägt.

Das Faszinosum der Interaktion von flächiger Farbumgebung und Lichtspalte besteht nun darin, dass innerhalb der Öffnungen farbiges Licht erscheint; die Helligkeit innerhalb der Öffnungen erscheint farbig. Es handelt sich genau um das Rotviolett wie oben bereits beschrieben.

Es sollten im folgenden Hypothesen formuliert werden, die eine kritische Beschäftigung mit den bisher erreichten Ergebnissen provozieren.

Besteht ein grundlegender Unterschied zwischen der Dynamik des auf der Fläche stattfindenden Simultankontrastes im Rahmen der Interaktion von Farbflächen und dem hier auftretenden Phänomen der Gestaltung farbigen Lichts in bezug auf einen möglichen Wirkungsunterschied? D.h. gibt es eine sachhaltige Begründung dafür, dass nicht ausschließlich der auf der Fläche stattfindende Simultankontrast aktiviert wurde? Denn wir können davon ausgehen, dass auch für das hier auftretende Lichtphänomen die Komplementärbildung/wirkung verantwortlich ist.

Würden die Spalten lediglich flächige Streifen ausmachen, in einem angemessenen Grauwertton gehalten, so würde auf der Grundlage des Komplementäreffekts der Grauton zu einem Magenta transformiert werden. D.h. es besteht angesichts beider denkbarer Möglichkeiten tatsächlich ein markanter Wirkungsunterschied: Die Farbgebung wäre in beiden Fällen nicht identisch. Denn die Lichtgebung erscheint in Rotviolett, einem dem Magenta nur verwandter Farbton. Des weiteren würde klarerweise die plastische Wirkung wegfallen.

D.h. der unterschiedlichen Verfahrensweise der Herstellung ist ein Bedeutungsunterschied eingeschrieben, den wir zu bestimmen haben. Im technischen Prozedere der Gestaltentwicklung wird eine zu bestimmende Bedeutung freigesetzt, die sich von einer bloßen Aktivierung des Simultankontrastes und den daraus sich ergebenden Bedeutungskonsequenzen abhebt.

Wir können feststellen, dass im Gegensatz zum flächigen Simultaneffekt, sprich der komplementären Illuminierung einer im Vergleich aktionsneutraleren, -schwächeren Farbfläche, der hier vorliegende Farblichteffekt real erscheint. Würde man im Falle des flächigen Simultaneffekts die neutralere Fläche aus dem Interaktionszusammenhang isolieren, so würde die ursprüngliche Qualität derselben zurückerlangt werden. So würde also zum Beispiel das Grau, das innerhalb des Interaktionszusammenhangs zur Komplementärfarbe gedrängt würde, im Falle einer Isolierung dieses Zusammenhangs, also dadurch, dass man die beeinflussende Umgebung abdeckte, wieder als neutrales Grau erscheinen können. 

Anders bei dem hier vorliegenden Farblichtphänomen: Das angepasste neutrale Grau der Rückwand des Kastengebildes erscheint in der isolierenden Durchsicht durch die Spalten schwerlich als dieses neutrale Grau. Sicherlich erst dann, wenn man diese Wand konkret, als isolierte Rückwand, vor sich hätte. Allerdings erscheint es auch nicht genau als das identifizierte Rotviolett. Denn deckt man die grüne Umgebungsbedingung ab und betrachtet isoliert die Erscheinung innerhalb der Spaltenöffnungen, so erkennt man einen kälteren Blautonbereich mit den entsprechenden Helldunkelabstufungen, die dem natürlichen Lichteinfall geschuldet sind. Der warme Rotanteil im Rotviolett fällt also weg, sobald die Umgebungsbedingung wegfällt. Hiermit haben wir einen Nachweis dafür, dass die übliche Simultankontrastwirkung an dem gesamten Erscheinungsphänomen unverbrüchlich beteiligt ist. Der Blauton resultiert als das bekannte Phänomen farbiger Schatten. Das kältere Blau erscheint entsprechend als die (komplementäre) Umkehrung des einfallenden warmen Sonnenlichts. (Hier muss hinzugefügt werden, dass die fotografische Vorlage ein unter natürlichen Lichtbedingungen befindliches Werk abbildet). Das Rotviolett schließlich ist das Ergebnis aus der visuellen Verschmelzung des flächigen Simultaneffekts mit der Komplementärfarbe des einfallenden Lichts. Es findet also die Verschmelzung zweier Komplementärfarben zu einem einzigen Farbeindruck statt. Dabei handelt es sich um Komplementärbildungen, die zwei grundsätzlich unterschiedlichen / andersartigen Farbentwicklungsbereichen entstammen. Einerseits identifizieren wir den Simultankontrast, der ausschließlich auf der Erscheinungsebene von Farbinteraktion anzusiedeln ist: Die erfahrbare Wirkung hat rein illusorischen Status; das, was man im Rahmen des Simultankontrastes als Farberscheinung identifiziert, liegt nicht real als messbare Faktizität vor. Denn sobald die Umgebungsbedingungen wegfallen, wird der Erscheinung ihre Grundlage entzogen. Das Phänomen der farbigen Schatten dagegen, die komplementäre Umkehrung des Lichtcharakters, ist nicht das Resultat einer Wahrnehmungsillusion, sondern eine messbare Faktizität. Denn auch im isolierten Zustand bleibt der Farbcharakter bestehen.

Die Werkgestalt erreicht eine Vermittlung zweier Wirkungssphären. Deren Verschmelzung führt zu einem neuen bzw. erweiterten Wahrnehmungsereignis. Es wird eine erweiterte Illusion realisiert. Entscheidend ist, dass dabei zwei unterschiedliche Farbentwicklungsebenen zum Einsatz gebracht werden.

Uns interessiert nun insbesondere die obere und untere rein gemalte rotviolette Fläche des Werkes. Farblich entspricht der gewählte Farbton sehr genau der mittleren Erscheinungsfarbe, die das visuelle Mischungsergebnis zweier Komplementärbildungen darstellt. Die beiden äußeren Flächen nun tragen Ergebnischarakter, da sie die Wirkung der Farberscheinung der Spaltenilluminierung exakt reproduzieren. Dadurch wird der besondere Kontrast von gemalter und erscheinender, im Grunde illusionärer Farbe eröffnet und konzentriert zum Einsatz gebracht. Messbare Wirklichkeit und Erscheinung werden aufeinander bezogen. Ihre Konfrontation zeigt, dass beide Farbtöne gleichen Realitätsgehalt aufweisen, beide erscheinen gleichermaßen wirklich und sie sind damit letztlich identisch, wobei gleichzeitig ihre Entstehungsbedingungen völlig andersartig sind: Einerseits handelt es sich um gemalte Farbe, andererseits handelt es sich um nicht stoffliche Farbe, sondern um farbiges Licht im verschmelzenden Zusammenspiel mit dem gleichsam immateriellen Simultankontrasteffekt.

Wir erfahren also den gestalteten Kontrast von materieller und immaterieller Farbe identischen Farbtongehalts. Dieser Kontrast stellt die Besonderheit und Faszination des immateriellen Erlebnisses heraus. Der Betrachter wird zwingend zu einem Erkenntnisprozess veranlasst. Denn für ihn ist es zunächst offensichtlich, dass innerhalb der Öffnungen ”nichts” ist, aber trotzdem ”etwas” sichtbar ist. Gleichzeitig erkennt er, dass in den materiellen Flächen sowie in den Spalten ein und dieselbe Farbe vorliegt. Das magische Ereignis innerhalb der Spaltenöffnungen offenbart das transzendente Potential, das mit materiellen Mitteln das Immaterielle erschafft. In dem Werk wird das Unsichtbare sichtbar gemacht. Es wird aus dem ”Nichts” etwas erschaffen. Das Werk schöpft einen Erfahrungsgehalt, der dem Bereich der visuellen Anschauung vorbehalten ist. Die Erfahrung manifestiert sich allein am Werk. Aus diesem Grunde wird das Werk zum Bildungsgegenstand.

Das Werk spricht für die handwerkliche Perfektion des Künstlers. Der konstruierte und farblich bearbeitete Kasten dient als Instrument, um das nicht stoffliche Farbpotential zu aktivieren und erfahrbar zu machen. Das handwerkliche Bearbeiten von Stofflichkeit bringt das Immaterielle hervor. Es wird etwas erzeugt, das ohne die es konstituierenden Bedingungen nicht vorliegen könnte. Es wird mit materiellen Mitteln ein immaterieller Erfahrungsgehalt gehoben / eingefangen.

Entscheidend ist der verletzende Duktus, der überhaupt erst zur Sichtbarmachung des nicht Sichtbaren beiträgt: Durch Verletzen der Oberfläche wird deren Flächigkeit aufgebrochen. Es findet eine Vermittlung von Flächigkeit und Räumlichkeit statt. Diese Räumlichkeit wird nun als Medium des immateriellen atmosphärischen Ereignisses genutzt, denn das komplementäre Brechungsergebnis des einfallenden Lichts kann sich ausschließlich räumlich manifestieren, obwohl es sich flächig konkretisiert. Entsprechend ist ein besonderes Maß an Räumlichkeit notwendig, dass die Lichtbrechung zu einem Wirkungsresultat führen kann.

Man öffnet, durchbricht etwas, um zu etwas Dahinterliegendem zu gelangen. Diese Aussage enthält ein semantisches Potential. Fast hat es etwas Gewaltsames, mittels dessen das Verborgene, symbolisch Dahinterstehende, eben Geheimnisvolle ans ”Tageslicht” gebracht wird. Die Symbolträchtigkeit des gesamten Handlungskreises um die Oberflächenbehandlung macht, vor allem im Hinblick auf das verdichtet gestaltete Wirkungsresultat, das Anliegen deutlich: das Geheimnis der Verschmelzung von Licht- und Simultanfarbe. Denn das Aufbrechen der Oberfläche sowie die Zwischenschaltung der Rückwand sind konstitutiver Bestandteil von Lichtgestaltung, das Konstrukt insgesamt wird zu einem Farb-Licht-Instrument.

Die Besonderheit der Arbeit zeigt sich darin, dass sie grundsätzlich den Status eines reinen Anschauungsobjektes transzendiert.

Die erreichte Verschmelzung von Licht- und Simultanfarbe eröffnet objektiv eine unverbrüchliche Verbindung von musischer Betrachtung und aktiver Eigenbeteiligung des Betrachters. Der Betrachter wird einerseits zur musischen Aufnahme der Farbereignisse aufgefordert, andererseits komplettiert seine Eigenaktivität auf der Grundlage der Physiologie seines Auges (Komplementärbildung) die Gestaltstruktur und ergänzt die voreingerichtete Situation zu einem Bedeutungsgesamten. Der Betrachter befindet sich in einem suggestiven Sog, da seine zu unterstellende intensive Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem Werk den Wirkungsprozess immer weiter potenziert. Ein intensives Betrachten steigert die komplementäre Illuminierung. Eine geregelte Interaktion von und damit Kommunikation zwischen Werk und Betrachter wird damit sowohl vorausgesetzt als auch begründet. Der Betrachter wird in die sinnliche Bedeutungserzeugung miteingebunden und erscheint letztlich als konstitutiver Bestandteil des Werkes.

© wfk, Michael Becker, Juni 2001 / Dezember 2001

 


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